INTERVIEW SHANTEL (BUCOVINA)

„Der Mythos vom Schmelztiegel neu beleben“ 

Text & Interview: Peter Parker  

Seit der Frankfurter Stefan Hantel im Musikgeschäft mit dem Pseudonym Shantel tätig ist, versucht er neue Wege zu gehen und neue musikalische Hybriden zu schaffen. Mitte der 90er Jahre im Zuge der Wiener Downbeat-Melange um die Kollegen Kruder & Dormeister bekannt geworden, verbindet er heute südosteuropäische Polka-Brass, jüdischen Klezmer und die traditionelle Folklore des fahrenden Volkes der Sinti und Roma mit zeitgenössischen Clubströmungen. Dieses multikulturelle Gebräu bezeichnet man als Balkan Beats. Die eroberten erst die Herzen vieler Hörer und Party-sanen und zugleich die großen Festivals Europas. Mit seinem „Bucovina Club Orkestar“ ist er weiterhin weltweit auf Tour und präsentiert nach dem Welterfolg der Platte „Disco Partizani“ Ende August sein neues Werk „Planet Paprika“. Im Interview erzählt der umtriebige Freigeist, DJ, Musiker und Komponist von der Problematik der Identitätssuche, fehlendem Respekt und die universelle Kraft der Musik. 

 Du hast auch mal für einen längeren Zeitraum in Israel gelebt und dort dein Album „Greatdelay“ aufgenommen. Brauchst du ein Rückzugsfeld um neue Kraft und Inspiration aus dem jeweiligen Umfeld zu sammeln?

Shantel: Ich habe Tel Aviv eher zufällig entdeckt. Ich fand Paris, London oder New York nicht so spannend. In Tel Aviv gib es einfach wahnsinnig viel an Jugend und Popkultur. Das ist etwa gleichwertig mit Berlin zu sehen. Ich arbeite einfach sehr gerne international und auch immer darauf dass wir auch weltweit Konzerte spielen. Unbekanntes inspiriert oft viel mehr als das heimische Umfeld. Der Erfolg und die Resultate sind dann einfach auch substantieller.

Wie wird deine Musik mit Bucovina im Osten Europas aufgenommen?

Shantel: Sehr euphorisch! Wir waren in der Türkei auf Platz 1 der Charts. Wir sind bei riesigen Festivals in Bulgarien und Ungarn eingeladen. In Griechenland, Polen und Bulgarien waren wir mit „Disko Partizani“ in den Top50. Wir bringen sogar eine extra Version auf Russisch jetzt raus, weil es dort so populär ist. Wir sehr glücklich darüber, dass so viele Menschen unseren Sound mögen.

Du hast bereits Anfang der 90er im Frankfurter Rotlichtviertel deinen eigenen Club Lissania Essay betrieben um autark von der damalige Technowelle zu sein.

Shantel: Das war mir einfach immer zu starr und teutonisch. Die rebellische Plattform hat gefehlt um zu experimentieren. Ich war und bin leidenschaftlicher DJ. Ich wollte nie Musiker werden – das hat sich einfach entwickelt.

 Mit Daniel Haaksmann erbindet dich das Label Essay Records. Er gehört zu den wenigen, europäischen Spezialisten für brasilianischen Baile-Funk. Hatten sich da zwei Gleichgesinnte und Freigeister zur richtigen Zeit gefunden?

Shantel: Die Chemie zwischen uns stimmt einfach. Es ging nie darum Neues und Exotisches an den Start zu bringen. Wir waren schon immer sehr neugierig was auf der Welt musikalische passiert. Die Hybride aus elektronischer Musik und Worldmusic fanden wir immer für spannend. Die Dogmatik der Weltmusik seht da eher im Wege – die wollte ja nie clubbig sein.

 Mitte der 90er Jahre, als von Balkan Beat noch niemand wusste, bekamst du durch den Hype der Dowbeats der Wiener von Kruder & Dorfmeister für deine Hybride richtig Aufmerksamkeit! Empfindest du eine gewisse Seelenverwandtschaft mit den Wienern Soundtüftlern?

Shantel: Das war auf jeden Fall auch ein richtiges Phänomen und die gleichen Ansätze und Konzeptionen passten zwischen uns. Wir waren auch viel zusammen unterwegs und haben viel erlebt. Es war eine super Zeit in der unsere Musik einen Lauf hatte. Da ging es um einen Sounddesign aus Jazz, Minimal, Dub, Reggae, HipHop und mehr. Es war alles sehr atmosphärisch. Das war alles ein totaler Gegensatz zu Bucovina. Heute ist das eine reine Antiposition zu dem Konzeptionellen und Durchdachten von früher.

 Du hast auch für den Hamburger Filmemacher Fathi Akin den Soundtrack zu seinem Film „Auf der anderen Seite“ komponiert und produziert. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?

Shantel: Das war eine großartige Erfahrung. Ich hatte völlig frei Hand nachdem ich das Drehbuch gelesen hatte.

 Wie entstand die Idee die traditionellen, oft sehr unterschiedlichen Musiken des Balkans mit zeitgenössischen Beats zu mischen?

Shantel: Aufgrund meiner eigenen jüdischen Wurzeln bin ich Ende der 90er Jahren in die Ukraine gereist. Auf der Suche nach meiner eigenen Herkunft und Identität habe ich mir den Landstrich der Bucovina angesehen. Einst gab es dort im Gebiet der heutigen Ukraine und dem südlichen Rumänien einen Schmelztiegel verschiedener Kulturen die friedliche zusammenlebten bis weltpolitische Begebenheiten wie Faschismus und Stalinismus die Multikultur auslöschten. Mein Bucovina-Sound ist meine Vorstellung wie es dort musikalische augesehen haben könnte – als moderne Formel.

 Die Balkan Beats sind ein wahres Phänomen. Die Kreuzung von traditioneller Folklore und zeitgenössischen Beats bewegt jede Altersgruppe und scheinbar kann jeder darauf tanzen. Wie erklärst du dir das?

Shantel: Grundsätzlich kann ich nur für mich sprechen. Ich glaube an keine Hypes, die ja auch oft von den Medien ausgerufen werden. Das Phänomen äußert sich eher darin, dass hier die unterschiedlichsten Szenen bei meinen Partys, Konzerten und Clubnights zusammen kommen. Jeder hier ist meist mit westliche Rock und Popmusik sozialisiert und hat gewisse Ermüdungserscheinungen vom aktuellen Geschehen der charts-kompatiblen und durchkalkulierten Musik. Es gibt nicht mehr viel was unberührt und rebellisch bzw. abseits der Norm ist. Dann kommen die Marktmechanismen und die Medien noch hinzu. Wenn etwas echt innovativ und frisch ist, kann es schon nach drei Monaten wieder out sein, weil H&M oder sonst wer den Song benutzt und ausschlachtet. Gute Musik muss lange Bestand haben.

Wie hat die Industrie auf deinen neuen Sound reagiert?

Shantel: Überhaupt nicht! Die hielten das alles für unmachbar und unmöglich. Deshalb habe ich, als ich mit Bucovina anfing, mein eigenes Label, mein eigener Verlag und meine eigene Booking-Agentur gegründet.

 In der heutigen Ukraine und im südlichen Rumänien liegt der Landstrich Bucovina – das lange vor 1939 auch als Buchenland bezeichnet wurde. Dort hattest du so etwas wie ein Schlüsselerlebnis für deine jetzige Kreativphase!

Shantel: Der rumänische Faschismus, der russische Stalinismus, und weitere fatale weltpolitische und regionale Strömungen haben die Bucovina in ihrer kulturellen Vielfalt ausradiert. Es gibt diesen multikulturellen Schmelztiegel heute nicht mehr. Man kann nur noch darüber lesen und von älteren Leuten darüber erfahren. Aus einem privaten Bedürfnis bin ich dort Ende der 90er Jahre hingereist. Der Mythos besagt, dass die Musik die aus vielen verschiedenen Kulturkreisen dort miteinander fusionierte, sich über die Grenzen von Nationalität oder Religion hinweg setzte. Ein lebendiges und friedvolles Miteinander entstand dort. Mein Bestreben war es ein Teil meiner eigenen Identität in einen neuen Sound zu legen und meine Definition von diesem Mythos neu aufleben zu lassen. So entstand der Bucovina-Sound.

Ende August erscheint dein neues Album „Planet Paprika“. Paprika verbindet man oft mit Ungarn und Südosteuropa. Musikalisch wie geografisch ist das eine große Bandbreite die man mit der jeweiligen Folklore verbindet. Den Gypsy-Jazz der Sinti & Roma, den Manele-Sound der Rumänen, den traditionelle jüdischen Klezmer bis hin zu dem Polka-Brass-Sound des Ostens allgemein. Ist dein Sound also die bewusste Zusammenführung dieser verschiedenen Einflüsse?

Shantel: Ich halte das für sehr heikel sich dort etwas und da etwas herauszuziehen. Die Fusionen passieren einfach und man muss es auch passieren lassen. Die Einflüsse sind unbewusst und oft auch unterbewusst. Ich habe jüdische Wurzeln und meine Großeltern haben früher sehr viel Musik gemacht und gehört. Bewusst jetzt dieses oder jenes Genre anzuvisieren geht komplett gegen meine Art von Komponieren und Produzieren. Bucovina will einfach zeigen, dass es besser zusammen als gegeneinander geht. Ich will zeigen, dass es so was schon immer gab. Es geht am Ende um Respekt. Der alltäglichen Diskussion über Identitäten und Religionen trete ich so entgegen – ein musikalisches aber auch politisches Statement.

Du hast 2008 über 250 Konzerte und DJ-Gigs gespielt. Hörst du privat überhaupt noch Musik?

Shantel: Nach wie vor noch sehr viel. Ich sammele Vinyl und habe auch Tonnen von Schallplatten zu Hause. Weil ich soviel unterwegs bin brenne ich mir das Meiste auf CD – das ist einfach nicht so schwer zu schleppen und einfacher zu transportieren wenn man so Marathontouren macht wie ich. Aktuell gibt es wieder sehr viel Musik zu entdecken. Der Bereich zwischen House und Jazz ist noch nicht ganz ausgelotet. Es entstehen immer noch viele interessante Fusionen überall auf der Welt. Die Pariser Kapelle Caravan Palace kombiniert gerade sehr gelungen Gypsy Jazz und House. Ich kenne die Gruppe von Festivals und sie haben gesagt, dass sie von mir inspiriert wurden. Das ist das schönste Kompliment, dass man als Musiker und Produzent bekommen kann.

 Oberflächliche gesehen, ordnet der Durchschnittshörer deinen Sound dort ein, wo Wladimir Kaminer mit dem Sound der „Russendisko“ vor fast 10 Jahren begonnen hatte. Wie empfindest du das?

Shantel: Wladimir ist ein Freund von mir, und wir haben auch schon vor Jahren zusammen aufgelegt. Das lag aber eher am Veranstalter der das alles nicht einordnen konnte. Im Prinzip ist das was ich Bucovina mache, etwas komplett Unterschiedliches zum Russendisko-Sound. Ich kann durchaus verstehen, dass viele diese Ostblock-Klangwelten in einen Topf werfen – aber in Deutschland ist man einfach noch nicht so weit, das zu differenzieren. Aber daran arbeite ich ja.